Seit dem Inkrafttreten des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes (BFSG) am 28.06.2025 sind bereits erste Abmahnungen im Umlauf. Besonders betroffen sind Betreiber von Webseiten im E-Commerce, da hier eine Vielzahl an Unternehmen tätig ist und die Überprüfbarkeit der Barrierefreiheitsanforderungen vergleichsweise einfach möglich ist.
Den betroffenen Unternehmen wird pauschal vorgeworfen, ihre Webseiten seien nicht barrierefrei im Sinne des BFSG. Zur Begründung dient lediglich ein Screenshot, ohne dass konkrete technische oder inhaltliche Mängel benannt würden. Rechtlich gestützt wird dies auf § 14 Abs. 1 Nr. 1 und 2 i. V. m. § 3 Abs. 1 und 2 BFSG sowie auf §§ 3, 3a, 7 Abs. 1 UWG.
Ungewöhnlich ist, dass die Abmahnenden statt einer strafbewehrten Unterlassungserklärung ein Vergleichsangebot unterbreiten: Gegen Zahlung eines nicht nachvollziehbar bestimmten Betrags soll die Angelegenheit erledigt sein. Zusätzlich wird eine Frist von drei Monaten zur Anpassung der Webseite eingeräumt – verbunden mit dem Angebot, kostenpflichtig bei der technischen Umsetzung zu helfen. Abgerundet wird dies durch Hinweise auf mögliche Bußgelder und die Darstellung eines Streitwerts von 10.000 €, so dass das Vergleichsangebot besonders kulant erscheint.
Gesetzliche Anforderungen im Überblick
Mit dem BFSG werden Hersteller und Anbieter digitaler Produkte verpflichtet, ihre Webseiten und mobilen Anwendungen barrierefrei zu gestalten.
In § 1 Abs. 3 BFSG ist festgelegt, dass die neuen Regelungen insbesondere folgende Bereiche betreffen:
- Personenbeförderungsdienste im Luft-, Bus-, Schienen- und Schiffsverkehr (außer städtische/regional begrenzte Dienste),
- Telekommunikationsdienste,
- Dienstleistungen im Zahlungsverkehr,
- E-Books mit dazugehöriger Software,
- digitale Dienstleistungen, die Unternehmen direkt an Verbraucher anbieten.
Besonders praxisrelevant sind die digitalen Dienstleistungen. Dazu gehören typischerweise Online-Shops, Online-Buchungs- und Reservierungssysteme oder digitale Kundenportale. Gerade diese Angebote stehen im Fokus, weil sie weit verbreitet sind und sich ihre Barrierefreiheit vergleichsweise einfach überprüfen lässt – was sie besonders anfällig für Abmahnungen macht.
Nicht erfasst sind rein private Angebote oder solche, die ausschließlich im B2B-Bereich genutzt werden. Ebenso gilt eine Ausnahme für Kleinstunternehmen mit weniger als 10 Mitarbeitenden und einem Jahresumsatz unter 2 Mio. €, sowie in Fällen einer „unverhältnismäßigen Belastung“ (§ 3 Abs. 3 S. 1 BFSG).
Barrierefreiheit bedeutet, dass digitale Angebote für Menschen mit Behinderungen wahrnehmbar, bedienbar, verständlich und robust sein müssen. Maßgeblich sind dabei einschlägige Standards wie die EN 301 549 und die WCAG 2.1/2.2.
Darüber hinaus bestehen u. a. folgende Pflichten:
- Informationspflicht (§ 10 BFSG): Verbraucher müssen über den Stand der Barrierefreiheit informiert werden.
- Nachweispflicht (§ 11 BFSG): Aufsichtsbehörden können Nachweise verlangen.
- Behebungspflicht (§ 12 BFSG): Mängel sind unverzüglich zu beseitigen.
- Dokumentationspflicht (§ 13 BFSG): Maßnahmen müssen nachvollziehbar dokumentiert werden.
Die Regeln gelten sofort für neue Produkte ab 28.06.2025. Für bereits vorhandene digitale Angebote gilt eine Übergangsfrist bis 28.06.2030.
Praktisch bedeutet das: klare Website-Struktur, Bildbeschreibungen (Alt-Texte), ausreichende Farbkontraste, Tastaturbedienbarkeit und Screenreader-Kompatibilität.
Bei Verstößen drohen Bußgelder bis 100.000 € (§ 22 BFSG).
Wie sollten Betroffene auf eine Abmahnung reagieren?
Die Abmahnungen sind meistens nicht gerechtfertigt. Die Abmahnenden sind häufig schon nicht berechtigt, Abmahnungen gegen Shop-Betreiber auszusprechen, da kein Wettbewerbsverhältnis im Sinne von § 8 Abs. 3 Nr. 1 UWG besteht. Während die Abmahnenden selbst Web-Dienstleistungen (Design, Marketing, SEO) anbieten, vertreiben die abgemahnten Händler physische Produkte. Da diese Leistungen weder vergleichbar noch austauschbar sind, fehlt es eindeutig an einem Substitutionswettbewerb – eine Anspruchsberechtigung ist somit nicht gegeben.
Zusammengefasst empfehlen wir Betroffenen:
- Nicht ignorieren: Abmahnungen ernst nehmen und kurzfristig rechtlichen Rat einholen.
- Nicht vorschnell zahlen: Vergleichsangebote juristisch prüfen lassen, bevor Geld überwiesen wird.
- Juristische Prüfung: Oft lassen sich Abmahnungen bereits wegen Formfehlern oder fehlender Anspruchsberechtigung angreifen.
- Keine vorschnelle Unterlassungserklärung: Vertragsstrafen können teuer werden; daher nie ohne anwaltliche Prüfung unterschreiben.
- Option Gegenabmahnung: Bei unberechtigten Abmahnungen bestehen Möglichkeiten zur Gegenwehr, bis hin zu negativen Feststellungsklagen und Schadensersatz.
Ansprechpartner: Dr. Stefan Bischoff Alexander Harfousch