Das Urteil des OVG NRW vom 17.05.2022 – 9 A 1019/20 -, mit dem das Gericht seine langjährige Rechtsprechung zur Einbeziehung kalkulatorischer Kosten in die Gebührenbedarfsberechnung kommunaler Benutzungsgebühren nach § 6 KAG NRW in wesentlicher Hinsicht geändert hatte, hat in NRW hohe Wellen geschlagen. Die mit der Rechtsprechungsänderung entstandene Rechtsunsicherheit in den kommunalen Kämmereien betraf insbesondere (Entwässerungs-)Gebührenbescheide für die Veranlagungsjahre 2019 bis 2022, die in vielen Kommunen Gegenstand von Widerspruchsverfahren waren, die zum Zeitpunkt des Urteils noch nicht abgearbeitet waren. Da das Urteil des OVG das Veranlagungsjahr 2017 betraf, wurde in den Kommunen und kommunalen Verbänden diskutiert, wie mit den offenen Widerspruchsverfahren aus den Folgejahren umzugehen war und ob rückwirkende Satzungsänderungen nach Maßgabe der neuen Rechtsprechung erforderlich sein würden.
Hinzu kam, dass der Landesgesetzgeber die Vorgaben der neuen obergerichtlichen Rechtsprechung zwar durch eine Änderung des § 6 KAG NRW teilweise umgesetzt hatte. Das Änderungsgesetz ist aber ohne Übergangsregelung schlicht am 15.12.2022 in Kraft gesetzt worden, sodass auch für das Veranlagungsjahr 2022 nicht ohne Weiteres klar war, ob hier die alte, bis zum 17.05.2022 geltende Rechtslage, angewandt werden sollte, die Rechtslage nach Maßgabe des Urteils vom 17.05.2022 oder der noch im Veranlagungsjahr 2022 in Kraft getretene neue § 6 KAG NRW. Die hierfür erforderlichen differenzierten Betrachtungen der einzelnen Gebührensatzungen, insbesondere die Frage des Entstehungszeitpunkts der jeweiligen Gebühr, sind auch gegenwärtig in vielen Kommunen noch nicht abgeschlossen; es sind weiterhin Widerspruchsverfahren offen.
Aus dem Blick geraten war dabei allerdings weithin, dass das Urteil des OVG NRW vom 17.05.2022 mit einer Nichtzulassungsbeschwerde zum Bundesverwaltungsgericht angefochten und damit noch nicht rechtskräftig geworden war. Das OVG hatte die Revision gegen das Urteil nicht zugelassen, die unterlegene Stadt hatte von der Möglichkeit des § 133 Abs. 1 VwGO Gebrauch gemacht, und die Nichtzulassung mit einer Beschwerde zum Bundesverwaltungsgericht angefochten (BVerwG 9 B 15.22 -). Ob das OVG-Urteil also überhaupt Bestand haben würde, war offen.
Dieses Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hat sich jetzt erledigt. Den angefochtenen Gebührenbescheid aus dem Jahr 2017 hat die Stadt nach Änderung des § 6 KAG NRW aufgehoben, sodass der Streitgegenstand des gesamten Verfahrens weggefallen ist. Die Prozessbeteiligten haben den Rechtsstreit daraufhin übereinstimmend für erledigt erklärt, womit eine Entscheidung in der Sache dem Bundesverwaltungsgericht nicht mehr möglich war. Mit dem verfahrenseinstellenden Beschluss des BVerwG vom 07.03.2023 hat dieses nun sowohl die erstinstanzliche Entscheidung des VG Gelsenkirchen als auch das aufsehenerregende Urteil des OVG NRW vom 17.05.2022 für wirkungslos erklärt, § 173 VwGO in Verbindung mit § 269 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 ZPO.
Unmittelbare Bedeutung hat diese Wirkungslosigkeit nur für die prozessbeteiligten Parteien. Dennoch ist zu konstatieren, dass die „neue Rechtsprechung“ des OVG NRW zu kalkulatorischen Abschreibungen und Zinsen bei Benutzungsgebühren jetzt endgültig nicht rechtskräftig geworden ist. Anlass zur Anwendung der im Urteil dargelegten Kalkulationsgrenzen auf zurückliegende Veranlagungsjahre besteht daher nicht. Widersprüche für die Veranlagungsjahre 2017 bis 2021 können derzeit auf Basis der alten Rechtslage beschieden werden. Widersprüche für das Veranlagungsjahr 2022 müssen darauf geprüft werden, ob die angefochtene Gebühr nach den jeweiligen Satzungen am Jahresanfang entsteht oder am Jahresende. Entsteht die Gebühr am Jahresanfang, gilt auch hier die alte Rechtslage. Entsteht sie am Jahresende, richtet sich die zulässige Höhe nach § 6 KAG NRW in seiner seit dem 15.12.2022 geltenden Fassung.
Anzumerken bleibt, dass die Veranlagungsjahre 2021 und 2022 inzwischen erneut Gegenstand von satzungsrechtlichen Normenkontrollverfahren vor dem OVG NRW sind. Anzumerken ist jedoch auch, dass sich die personelle Zusammensetzung des zuständigen Senats beim OVG erneut geändert hat. Der Berichterstatter hat den Senat gewechselt, die Änderung im Senatsvorsitz steht unmittelbar bevor. Ob der Senat also auch in neuer Besetzung an der Rechtsprechungsänderung festhalten wird, ist offen. Den Kommunen ist zu empfehlen, die in ihrem Zuständigkeitsbereich offenen Widersprüche baldmöglichst zu bescheiden und nicht auch diese, zeitlich nicht vorhersehbare Entscheidung des OVG abzuwarten. Es ist schon viel dadurch gewonnen, dass Rechtssicherheit aufgrund des neuen § 6 KAG NRW nun zumindest für die Gebührenkalkulationen ab 2023 besteht.
Ansprechpartnerin:
Susanne Tyczewski